Psychiatrische Versorgung neu denken – das ist das Ziel des Pfalzklinikums. Weg von starren stationären Strukturen, hin zu flexiblen, patientenzentrierten Angeboten. Mit dem Leitsatz „So viel ambulant wie möglich, so viel stationär wie nötig“ setzt das Pfalzklinikum als Vorreiter neue Maßstäbe in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Im Zentrum steht dabei nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch die gesellschaftliche Teilhabe und individuelle Unterstützung der Betroffenen.
Im Interview mit Gesundheitsmarkt spricht Geschäftsführer Paul Bomke über die Hintergründe dieser Neuausrichtung, die konkreten Versorgungskonzepte sowie laufende Ergebnisse aus dem Modellvorhaben nach §64b SGB V. Herr Bomke erläutert, welche Chancen und Herausforderungen mit der zunehmenden Ambulantisierung einhergehen und wie Digitalisierung und neue Berufsrollen die Versorgung verändern. Klar wird: Wer heute in der psychiatrischen Versorgung mitgestalten will, braucht Mut zur Veränderung – und den Willen, Verantwortung regional zu denken.
Inhaltsverzeichnis
- Psychiatrische Versorgung im Wandel: Das Pfalzklinikum im Überblick
- Modellvorhaben nach §64b SGB V: Hilfe, die bleibt – auch nach dem Klinikaufenthalt
- Besser versorgt durch flexible Behandlungspfade
- Psychiatrische Versorgung gesellschaftlich steuern statt marktwirtschaftlich riskieren
- Investitionsfinanzierung neu denken: Weg von der Bettenlogik
- Von der Spracherkennung zur Therapieunterstützung: Wie KI die psychiatrische Versorgung verändern kann
- Erfahrung mit DiGAs im klinischen Alltag

Paul Bomke, Geschäftsführer Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie (AdöR)
Gesundheitsmarkt: Hallo Herr Bomke, vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit nehmen, um gemeinsam über relevante Themen zu sprechen, die die ambulante und stationäre psychiatrische Versorgung aktuell bewegen. Wir blicken auf die Entstehungsgeschichte des Pfalzklinikums, das Modellvorhaben §64b SGB V und Ihre Einschätzung zur Zukunft der psychischen Versorgung. Lassen Sie uns gerne direkt mit dem Profil vom Pfalzklinikum beginnen.
Psychiatrische Versorgung im Wandel: Das Pfalzklinikum im Überblick
Gesundheitsmarkt: Welche Angebote bieten Sie an, und was zeichnet das Klinikum aus?
Paul Bomke: Wir haben drei große Versorgungsbereiche. Erstens die klassische psychiatrische Versorgung gemäß SGB V – also für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen, jeweils ambulant, stationär und vorstationär bzw. integrierte Angebote. Zweitens den Maßregelvollzug, also die Behandlung und Wiedereingliederung psychisch kranker Straftäter – ebenfalls für Erwachsene und Jugendliche. Und drittens die gemeindepsychiatrische Versorgung nach SGB IX. Die Sparte „Krankenhaus“ gliedert sich wiederum in Psychiatrie und Neurologie, wobei die Psychiatrie in Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Erwachsenenpsychiatrie unterteilt ist.
Gesundheitsmarkt: Und wie sah der Ursprung aus? Aus welchem Bereich hat sich das Pfalzklinikum heraus entwickelt?
Paul Bomke: Gegründet wurde das Pfalzklinikum 1857 als Kreisirrenanstalt, später hieß es Heil- und Pflegeanstalt. Der ursprüngliche Gedanke war, Menschen, die infolge der Industrialisierung an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, eine Behandlungs- und Heilungsmöglichkeit zu bieten.
Gesundheitsmarkt: Und wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus? Wo sehen Sie Entwicklungspotenziale?
Paul Bomke: Wir verfolgen drei strategische Zielrichtungen: Moderne Angebote im Maßregelvollzug, neue Formen in der Eingliederungshilfe und die Weiterentwicklung des psychiatrischen Fachkrankenhaus. Gemeinsames Ziel ist die zunehmende Ambulantisierung. Stationäre Angebote sollen so flexibilisiert werden, dass mehr Versorgung in den Gemeinden möglich wird.
Gesundheitsmarkt: Und spüren Sie dahingehend eine wachsende Nachfrage seitens der Patienten bzw. Klienten?
Paul Bomke: Es zeichnen sich zwei Entwicklungen ab: In der Neurologie ist weiterhin eine hochspezialisierte stationäre Versorgung notwendig. Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) fordert hier eine stärkere Spezialisierung. In der Psychiatrie beobachten wir hingegen einen klaren Trend zur Ambulantisierung. Viele Patienten möchten den Klinikaufenthalt vermeiden und greifen erst darauf zurück, wenn alle anderen Angebote ausgeschöpft sind. Das hat auch mit der starken Betroffenenbewegung zu tun – niemand ist gern im Krankenhaus. Und in der Eingliederungshilfe geht es immer mehr um personenzentrierte Angebote zur Ermöglichung und Sicherung der Teilhabe.
Modellvorhaben nach §64b SGB V: Hilfe, die bleibt – auch nach dem Klinikaufenthalt
Gesundheitsmarkt: Hat die Ambulantisierung auch Auswirkungen auf die Behandlungsergebnisse?
Paul Bomke: Wir sehen sehr gute Ergebnisse durch integrative, stufenweise Behandlungskonzepte. Man kann nicht pauschal sagen, dass ambulant besser ist als stationär – es kommt auf die Kombination an. So viel stationäre Behandlung wie nötig, so viel ambulant wie möglich. Das bestätigen auch die Befragungen im Rahmen der Evaluation des §64b. Die Daten zeigen, dass die Effekte einer integrierten Versorgung mit denen der rein stationären vergleichbar sind – in vielen Fällen und für besondere Gruppen sogar besser. Und insgesamt nimmt die Zufriedenheit aller Beteiligten zu.
Gesundheitsmarkt: Lassen Sie uns näher auf das Modellvorhaben §64b eingehen. Können Sie das Konzept vielleicht anhand eines typischen Patientenverlaufs näher erläutern?
Paul Bomke: Ein klassisches Beispiel: Ein Patient wird stationär aufgenommen, bleibt durchschnittlich 14–18 Tage – das ist deutlich kürzer als der Bundesdurchschnitt von 25–30 Tagen. Danach erfolgt die Weiterbehandlung in einer Tagesklinik und anschließend ambulant, entweder über unsere Institutsambulanz oder durch niedergelassene Fachärzte. Wenn es nicht klappen soll, können die Angebote individuell angepasst werden und der Wechsel ist schneller möglich. Dieses Stufenkonzept kennen wir z.B. auch aus der somatischen Rehabilitation. Auch in Krisenfällen greift dieses System: Es kann schnell auf eine stationäre Aufnahme reagiert werden oder, weil ambulante Angebote vorhanden und verfügbar sind, eine solche Aufnahme verhindert werden. Das Besondere ist, dass man zwischen den Settings wechseln kann, ohne dass die Verantwortung der Behandler aufhört oder das Team gewechselt werden muss.
Gesundheitsmarkt: Das Konzept verfolgt also einen sehr patientenzentrierten Ansatz.
Besser versorgt durch flexible Behandlungspfade
Paul Bomke: Genau. Unser Motto lautet: „Wir wollen keine anderen Patienten behandeln – wir wollen Patienten anders behandeln.“ Ein Beispiel: Tageskliniken am vollstationären Standort bieten Vertrautheit, weil Patienten dort schon das Personal kennen. Kontinuität der Behandler, insbesondere in der Pflege, ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. In der Gerontopsychiatrie etwa gibt es spezialisierte Pflegekräfte, die auch für die Behandlung zuhause geschult sind – denn das häusliche Umfeld stellt ganz eigene Herausforderungen. Angehörige können so besser mitgenommen und eingebunden werden.
Gesundheitsmarkt: Und wie nehmen Patienten das Modell an? Gibt es Feedback oder Evaluationsergebnisse?
Paul Bomke: Ja, das Land Rheinland-Pfalz finanziert eine begleitende Evaluation. Die Rückmeldungen von Patienten und Angehörigen sind überwiegend positiv. Viele Angehörige berichten, dass sie sich stärker eingebunden fühlen und gleichzeitig entlastet werden. Unser Landesverband der Angehörigen betont das regelmäßig. Das Angebot wird also nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für deren Umfeld als hilfreich erlebt.
Gesundheitsmarkt: Und wie ist die Resonanz im Gesundheitswesen allgemein? Gibt es eine Strahlkraft Ihres Modellvorhabens?
Paul Bomke: Ja, wir gelten mittlerweile als Leuchtturmprojekt. Kollegen aus ganz Deutschland – etwa aus Oberbayern, Thüringen, aus dem Rheinland – haben uns besucht. Eine Kollegin, ehemals bei der Krankenkasse, jetzt bei einem Krankenhausträger, bietet sogar Workshops mit unserem Projektleiter für das Modell dazu an. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die DGPPN greifen das Thema auf. Es gibt ein gemeinsames Papier zur Neugestaltung psychiatrischer Versorgung, und im Thieme-Verlag erscheint bald ein Sonderheft zu innovativen Versorgungsformen. Dennoch gibt es Regionen, in denen die Kassen nicht mitziehen – z. B. im Saarland. Wir haben unser Know-how angeboten, aber es wurde nicht umgesetzt. Das zeigt: Erfolgreich ist das Modell dort, wo ein großer Träger – wie das Pfalzklinikum – bereit ist, übergreifende Steuerungsverantwortung zu übernehmen. Funktionieren kann es aber auch in Netzwerken gleichberechtigter Partner – etwa in genossenschaftlich strukturierten Zusammenschlüssen. Modellvorhaben eignen sich allerdings nicht zur Gewinnmaximierung. Durch die Budgetlogik sind Wachstumsanreize begrenzt.
Psychiatrische Versorgung gesellschaftlich steuern statt marktwirtschaftlich riskieren
Gesundheitsmarkt: Gerne möchte ich mit einer allgemeineren Frage fortfahren: Sie verfolgen sicherlich die aktuelle Krankenhausreform. Mancherorts sieht man direkte Auswirkungen, insbesondere Schließungen. Viele Krankenhäuser müssen sich restrukturieren oder neue Kooperationen eingehen, sodass sie bestimmte Leistungsbereiche nicht verlieren. Machen sich Auswirkungen der Reform auch bei Ihnen bemerkbar?
Paul Bomke: Besonders in wettbewerbsintensiven Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen erleben wir, dass massiv in Kinder- und Jugendpsychiatrie investiert wird – oft mit dem Ziel, zusätzliche Betten zu gewinnen. In Bayern wiederum liegt der Fokus vieler Träger auf der Psychosomatik. Das ist für uns als vollversorgender psychiatrischer Träger problematisch, da diese Spezialisierung nicht zur regionalen Pflichtversorgung beiträgt. Es gibt dann die Cherry- Picking- These. Gerade das Themenfeld regionale Verantwortung bzw. Pflichtversorgung wird sehr kontrovers diskutiert. Und das passt so gar nicht in die Debatte eines kompetitiven Gesundheitsmarktes. Ich sehe die Zukunft in regionaler Steuerungsverantwortung und nicht im freien Spiel der Kräfte, bei dem die Schwachen keine Chance haben.
Gesundheitsmarkt: Das würde man dann wohl als Wettbewerbsverzerrung bezeichnen.
Paul Bomke: Genau. Wir können auch von Fehl.-, Unter- und Überversorgung sprechen. Und es hat auch Auswirkungen auf die Attraktivität des Arbeitgebers. Wenn Fachpflegekräfte oder Psychiater nur noch mit der Krisenversorgung zu tun haben, aber ihr ganzes Wissen nicht mehr einsetzen können, leidet auch die Qualität der Weiterbildung. Zudem werden keine regionalen Versorgungsstrukturen mehr aufgebaut, wenn Patienten aus ganz Deutschland in bestimmte Einrichtungen strömen. Die eigentliche Frage ist dann: Wollen wir eine marktorientierte psychiatrische Versorgung oder ein regional organisiertes Netzwerk mit gesellschaftlicher Steuerung? Wir vertreten Letzteres – aber letztlich muss das gesellschaftlich ausgehandelt werden. Sie sprechen da auf jeden Fall ein sehr relevantes Thema an.
Investitionsfinanzierung neu denken: Weg von der Bettenlogik
Gesundheitsmarkt: Gibt es aus Ihrer Sicht weitere regulatorische Herausforderungen, die einer Reform oder klareren gesundheitspolitischen Unterstützung bedürfen?
Paul Bomke: Ja, auf jeden Fall. Zunächst geht es um die Gleichstellung von Modellvorhaben mit der Regelversorgung. Herr Lauterbach hatte im Zuge des alten Gesetzesentwurfs zur Überwindung von Versorgungsgrenzen eine Entfristung der Modellvorhaben nach §64b SGB V vorgesehen. Das ist aber gescheitert, weil die Regierung keine Mehrheit mehr hatte. Wir hoffen, dass dieser Ansatz wieder aufgegriffen wird. Auf Bundesebene setzen wir uns weiterhin für eine Gleichstellung ein – damit Träger nicht immer wieder befristete Verträge aushandeln müssen.
Ein weiteres Problem ist die Investitionsfinanzierung. Aktuell ist die Währung im System das Bett. Wenn man stationäre Betten abbaut – was im Sinne der Ambulantisierung ja gewünscht ist – bekommt man weniger Investitionsmittel. Die Krankenhausplanung der Länder ist in der Psychiatrie noch überwiegend an die Zahl der Betten gekoppelt. Aber wenn wir stattdessen eine moderne Infrastruktur für nicht-stationäre Angebote schaffen wollen – etwa Ambulanzzentren, Rückzugsräume oder tagesklinische Angebote – brauchen wir dennoch Investitionen. Dafür fehlt bislang die gesetzliche Grundlage.
Gesundheitsmarkt: Heißt also: Die Finanzierung im ambulanten Bereich ist nicht ausreichend?
Paul Bomke: Genau – besser gesagt im „nicht-stationären Bereich“. Denn bei „ambulant“ denkt man meist direkt an niedergelassene Ärzte. Es geht aber um stationsersetzende Versorgung: mobile Teams, Tageskliniken und Krisenzentren, ambulante Krisendienste. Für all das gibt es derzeit keine ausreichende Investitionsfinanzierung.
Gesundheitsmarkt: Sehen Sie in der aktuellen Entwicklung auch Chancen – zum Beispiel im Hinblick auf Ihr Modellvorhaben oder darüber hinaus?
Paul Bomke: Ja, durchaus. Eine zentrale Chance ergibt sich aus dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), konkret aus §107 Absatz 2 SGB V. Dort wurde erstmals definiert, dass ein Krankenhaus nicht nur ärztlich, sondern auch pflegerisch geleitet wird. Diese Anerkennung der Pflege als gleichwertige Fachdisziplin ist ein großer Schritt. Auch die Bundesgesundheitsministerin hat zuletzt betont, dass der Pflege mehr Verantwortung übertragen werden muss. Ich habe kürzlich im Rahmen der Verabschiedung von Prof. Dr. Anderl-Doliwa betont, wie wichtig akademische Pflege im Sinne sein kann, wenn man eigene Kompetenzbereiche schafft. Hier entstehen neue Modelle, die der Pflege mehr Gestaltungsspielraum geben – das birgt große Chancen.
Auch für den ärztlich-therapeutischen Bereich gibt es Entwicklungsmöglichkeiten. Es zeichnet sich ab, dass Psychotherapeuten zunehmend die psychotherapeutische Versorgung übernehmen, während Ärzte sich stärker auf Diagnostik, Medikation und Gesamtsteuerung konzentrieren. Für Psychotherapeuten wiederum ist es wichtig, in die Kernarbeit stärker eingebunden zu werden und Teil der 24/7 Versorgung zu werden. Insgesamt eröffnet das auch neuen Spielraum für andere Gesundheitsberufe wie Ergotherapeuten, die in integrierten Versorgungsmodellen eine wichtige Rolle spielen können.
Gesundheitsmarkt: Sie haben eingangs bereits betont, dass die pflegerische Rolle einen maßgeblichen Einfluss auf das Behandlungsergebnis hat. Umso wichtiger ist es daher, diese Rolle nachhaltig zu stärken- auch im Sinne der Patientinnen und Patienten! Spüren Sie akute Auswirkungen der Krankenhausreform denn auch bei sich?
Paul Bomke: In der Neurologie ja, da spüren wir die Umstrukturierungen deutlich. In der Psychiatrie hingegen kaum – sie ist derzeit von den Leistungsgruppen der Reform ausgeschlossen. Manche Träger, die bislang rein somatisch gearbeitet haben, entdecken nun die Psychiatrie für sich, um leerstehende Stationen zu füllen. Fortgeschrittene Bundesländer versuchen, das zu verhindern. Auch die Krankenkassen sind kritisch. Organisationen neigen dazu, sich in solchen Umbruchsituationen neu zu definieren.
Von der Spracherkennung zur Therapieunterstützung: Wie KI die psychiatrische Versorgung verändern kann
Gesundheitsmarkt: Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen Blick auf Zukunftstrends werfen. Eine besonders drängende Frage ist der Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf die psychiatrische oder psychosomatische Versorgung. Gibt es bei Ihnen bereits Ideen oder sogar schon erste Umsetzungen, wie KI eingesetzt werden kann?
Paul Bomke: Konkrete Anwendungen haben wir derzeit noch nicht – und das hat einen guten Grund: Man sollte nicht den fünften Schritt vor dem ersten tun. Der erste Schritt ist für uns eine umfassende digitale Behandlungssteuerung im Alltag zu etablieren. Und das ist in Deutschland nicht ganz einfach. Unser Gesundheitswesen ist organisatorisch und strukturell sehr konservativ. Viele Digitalisierungsmaßnahmen greifen nicht, weil sie in der Praxis mit zusätzlicher Bürokratie und Mehraufwand verbunden sind.
Der nächste Schritt – und da sehe ich viel Potenzial – ist der Einsatz digitaler Entscheidungs- und Unterstützungssysteme, wie sie etwa im Rahmen des KHZG gefördert werden. Diese Systeme können dazu beitragen, dass verschiedene Berufsgruppen KI nicht als Bedrohung, sondern als unterstützendes Tool begreifen.
Es gibt bereits sehr gute Konzepte. In einem davon erkennt eine KI im Hintergrund während eines therapeutischen Gesprächs, was gesagt wurde, gleicht es mit Behandlungsstandards ab und erstellt automatisch einen Therapiebericht oder Handlungsempfehlungen. Noch steckt das alles in den Kinderschuhen.
Wesentlich weiter sind wir beim Thema Spracherkennung. Das funktioniert bereits sehr gut – insbesondere bei Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund, die sich beim Schreiben medizinischer oder pflegerischer Texte schwertun. Hier kann Technologie entlasten und für mehr Sicherheit sorgen.
Ein weiterer Bereich ist die Ressourcenplanung. So gibt es immer bessere digitale Planungstools zur Steuerung des Personaleinsatzes.
Zudem beobachte ich mit Interesse Träger, die digitale Behandlungsformen als eigenständigen Versorgungsansatz begreifen – gleichrangig neben stationären oder ambulanten Angeboten. Vitos möchte diesen Bereich gezielt für geeignete Zielgruppen ausbauen.
Auch bei uns konkretisieren sich Ideen. Wir messen z.B. digitalen Unterstützungsangeboten eine große Bedeutung bei – besonders im Hinblick auf Angehörige, die nicht regelmäßig vor Ort sein können, aber dennoch eine wichtige Rolle im Versorgungsprozess spielen, z.B. in der Gerontopsychiatrie. Da wollen wir digital besser unterstützen – zum Beispiel, wenn Angehörige berufstätig sind und nicht vormittags zu einem Gespräch mit dem Sozialdienst ins Krankenhaus kommen können. Das wäre ein echter Mehrwert.
Erfahrung mit DiGAs im klinischen Alltag
Gesundheitsmarkt: Absolut. Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die Entwicklung von DiGAs im psychiatrischen Bereich ein?
Paul Bomke: Wir setzen DiGAs ein – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Es ist ein bisschen wie bei allen therapeutischen Interventionen: Einige DiGAs wirken unterstützend, bei anderen merkt man Nebenwirkungen und setzt sie wieder ab. Studien laufen bei uns aktuell nicht, aber wir verwenden die Anwendungen, die zugelassen sind bzw. im vorläufigen Erstattungsverzeichnis gelistet sind.
Was ich aus der Verbandsarbeit weiß: Die erhofften Erfolge haben sich in der Breite nicht eingestellt. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens funktionieren DiGAs aus meiner Sicht am besten bei gut strukturierten Krankheitsbildern wie Depressionen. Bei Patienten mit schweren Psychosen oder bei älteren Menschen, wie meinem Vater mit fast 90 Jahren, sieht das anders aus. Er kann sein Smartphone kaum noch bedienen – auch, weil seine Haut nicht mehr genug Leitfähigkeit hat.
Zweitens wird immer wieder betont, dass DIGAs eine geringe Therapietreue (Adhärenz) aufweisen: Viele Nutzer brechen die Therapie frühzeitig ab. Die großen Änderungen (Reform des sogenannten Fast-Track-Verfahrens) sind für 2025 geplant.
Gesundheitsmarkt: Das heißt im engeren Sinne, es braucht nicht nur vor der Einführung Evidenz, sondern auch danach – durch systematische Datenerhebung und unabhängige Evaluation. Sonst gerät die Zulassung ins Wanken.
Paul Bomke: Genau daher gibt es ja die oben genannten Reformen und Kritiker behaupten: Die DiGAs wurden, nicht primär eingeführt, um die Versorgung zu verbessern – sondern um der Digitalwirtschaft einen neuen Markt zu eröffnen. Schauen Sie sich die politische Argumentation an, wer da diskutiert hat– das war Marktförderung, nicht Gesundheitsförderung.
Gesundheitsmarkt: Damit sind wir fast am Ende angelangt. Eine abschließende Frage: Wie sieht Ihrer Meinung nach die psychiatrische Klinik der Zukunft aus?
Paul Bomke: Die psychiatrische Klinik der Zukunft ist eingebettet in ein regionales Versorgungssystem. Die Akteure vor Ort entscheiden gemeinsam, welche Versorgungsangebote benötigt werden. Die Klinik als Komplexanbieter kümmert sich um die schwer Erkrankten – und sie sorgt dafür, dass die Gesellschaft lernt, mit diesen Menschen respektvoll und unterstützend umzugehen.
Gesundheitsmarkt: Ein sehr schöner Abschluss. Vielen Dank für das Gespräch! Es war äußerst spannend, und ich nehme viele neue Impulse mit. Es ist immer bereichernd, direkt mit engagierten Akteuren aus der Praxis zu sprechen.
Liste der 100 größten Krankenhausträger
- Unternehmensprofile mit Namen und Kontaktdaten im Excel-Format
- Anzahl der Standorte und Gesamtbettenzahl
- DSGVO konforme Detailinformationen
Über den Autor
Else Distel
Als studierte Gesundheitsökonomin mit einem Master in Health Economics & Health Care Management ordne ich für Sie die aktuellen Geschehnisse auf dem Gesundheitsmarkt ein. Mit datenbasierten Artikeln und Analysen gebe ich Ihnen aus ökonomischer Sicht einen umfassenden Überblick über ambulante und stationäre Akteure im Gesundheitswesen.